Texte

Texturen im Raum - Von Formgebung und Bildhaftigkeit im Werk von Maria Visser

von Sergey Harutoonian

Die Metapher der Prothese wird oft bemüht, wenn es gilt die Bedeutung von Kleidungsstücken hervorzuheben, in Zeiten einer Pandemie erhält sie jedoch nochmals eine ganz neue Dimension: Noch zu Anfang 2020 war der Mund- und Nasenschutz ein gesellschaftliches Phänomen, das aufgrund der zahlreichen SARS-Vorläufer vornehmlich im asiatischen Raum anzutreffen war. Spätestens mit der aufkommenden Pandemie war das hinter einer Schutzmaske verhüllte Gesicht das globale Bild schlechthin für eine Erweiterung des menschlichen Körpers, die in ihrer Hauptfunktion den Schutz vor einer (unsichtbaren) Gefahr gewährleisten sollte. Es dauerte jedoch nicht allzu lange bis die Modeindustrie das Potential bei diesem neuen »Accessoire« erkannte und entsprechende Masken mit aufwendiger Gestaltung in den Handel brachte. Als medizinisches Utensil eingeführt vollzog die Schutzmaske eine traumwandlerische Metamorphose zu einem Modegegenstand, der nicht mehr alleinig die Zweckmäßigkeit als erklärtes Ziel hatte, sondern nun auch ein ästhetisches Bedürfnis bei seinen Träger*innen stillen sollte.

Dieser kleine Exkurs in unsere von Covid-19 geprägte (oder besser geplagte) Gegenwart soll vor Augen führen, inwieweit ein kleines Stück Textil nicht nur unser Äußeres auf das Gravierendste verändert, uns sozusagen in einer Notsituation auf makabre Art und Weise zu einer ornamentalen Masse vereinheitlicht, sondern unser komplettes Erscheinungsbild dahingehend radikal transformiert, als dass wir ohne sichtbare Mimik zunehmend unheimlichen Schaufensterpuppen gleichen. Selbst in einer existenziellen Pandemie-Situation ist demnach die Sehnsucht nach Individualität mittels des äußeren Erscheinungsbildes ein tiefes menschliches Bedürfnis. 

Maria Vissers Arbeiten handeln (glücklicherweise) jedoch nicht von den Begleiterscheinungen der Pandemie, sondern von Kleidung im weitesten Sinne und dessen vielfältigen Ausformulierungen. Ursprünglich von der Malerei kommend begann Visser bereits früh im Studium sich vermehrt mit Kleidung und deren kulturellen Prägung als Mode künstlerisch anzunehmen und bedient sich dabei ebenjener Medien, die üblicherweise mit dem Modebereich assoziiert werden. Ein treffendes Beispiel ist das von ihr, noch zu Studienzeiten, gegründete und konzipierte Magazin »CHIC«, dass sowohl in seiner Bildsprache als auch hinsichtlich des Formats auf das weltberühmte VOGUE-Magazin verweist. Für ihre vorliegende Ausstellung »Future in Store« produziert Visser nun die dritte Ausgabe des CHIC-Magazins, das sich genauso wie der Ausstellungstitel mit der im englischsprachigen Raum gängigen Redewendung »What has the future in store for me?« beschäftigt. Der Begriff »store« ist dabei bewusst mehrdeutig zu verstehen, wird doch einerseits auf die aus dem Einzelhandel gängige Bezeichnung »in store« (dt. auf Lager) angespielt, als auch die Ungewissheit der Zukunft. 

In der dargelegten Abkürzung der genannten Frage wird gewissermaßen, auch mit seiner Ambivalenz auf eine zentrale psychologische Botschaft von Kleidung und Mode angespielt, die - von den Herstellern in saisonalen Kollektionen produziert - für ihre modeaffinen Kund*innen immer auch ein (ästhetisches) Sinnbild und Fixpunkt für die Zukunft darstellt. Die Bedeutung der räumlichen Inszenierung von Mode kann deshalb gar nicht hoch genug bemessen werden, sind doch sogenannte »cruise shows« in extravaganten Villen für große Modehäuser gängige Praxis geworden, wo kaufkräftigen Stammkund*innen die zwischensaisonalen Kollektionen exklusiv präsentiert werden. Dieser architektonische Aspekt der Inszenierung wird von Visser auf vielfältige Weise künstlerisch aufgegriffen, indem sie beispielsweise Architekturminiaturen zu Beginn jeder neuen Arbeit schafft und damit gewissermaßen die räumliche Inszenierung als Parallelprozess ihrer Kollektionen stattfinden lässt. Eines dieser Miniatur-Modelle mit dem Titel »Space Stores Condensed Time« führt exemplarisch vor Augen, inwiefern der Raum sich gleich einem Kokon um die jeweilige Arbeit schmiegt. 

Die Einbeziehung der Architektur spielt dahingehend eine zentrale Rolle in Vissers Werk, als dass die Schaffung von eigenen Kollektionen und deren Präsentation mittels eines »Défilés« essentieller Teil ihrer Arbeiten darstellt. Was zu Prä-Pandemie-Zeiten noch als Performance stattfinden konnte, muss nun mittels digitaler Hilfsmittel realisiert werden: Ihre eigens gestalteten Mode- und Schmuckkollektionen »Futur X«, »Facades« und »Comb Through Gills« werden von Models vor einem green screen vorgeführt und nachträglich in das Miniaturmodell übertragen. Die ohnehin kühle Ästhetik der futuristisch anmutenden Arbeiten erfährt durch die digitale Produktion noch eine artifizielle Steigerung. Im Hinblick auf die »Futur – X«-Kollektion wird die Bildhaftigkeit der Träger*innen besonders deutlich. 

Visser bedient sich bei der Gestaltung ihrer Objekte kryptisch anmutender Textzeichen und Symbole, die sich nicht einfach in dekorativer Weise der menschlichen Silhouette unterordnen, sondern vielmehr eine ästhetische Eigenständigkeit beanspruchen und darin den/die Träger/in gewissermaßen als physische Erweiterung traditioneller Präsentationsmöglichkeiten interpretieren. Der Mensch erfährt durch das Tragen der oftmals sperrig anmutenden Objekte eine skulpturale Qualität, die sich in Kombination mit der Rätselhaftigkeit der eingesetzten Zeichensysteme umso stärker den flüchtigen Avantgarde-Gedanken unterstreicht. Als Träger eines bestimmten »Images« wird der Mensch sozusagen selbst zu einem Zeichen einer diffusen Zukunftsvorstellung. Darin kann man eine Parallele zu Ferdinand de Saussures Zeichentheorie erkennen: Mittels der Hinzufügung der Prothesen, respektive Modeobjekte, wird der Mensch zu einem Bedeutungsträger (Signifikanten) eines Vorstellungsbildes (Zukunft), das nie fix, sondern immer in permanenter Entstehung begriffen ist.

Maria Vissers künstlerisches Schaffen zeichnet sich durch eine Vielschichtigkeit aus, die an der Schnittstelle zwischen Skulptur, Performance, Installation und Publikation operiert und darin scharfsinnig die Mechanismen der Modewelt offenlegt, ohne dabei wertend zu sein. Ihre Eigeninterpretationen bekannter modischer Ästhetik-Codes lässt sie mittels verschiedener Ausdrucksformen spielerisch miteinander verschmelzen und dringt dadurch zum Kern der Modewelt vor, der sich als ein hochkomplexes Terrain offenbart, das in seiner vermeintlichen Oberflächlichkeit tiefe menschliche Sehnsüchte in sich vereint und darin in seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.


– aus CHIC Issue 3, Future in Store (2021)

Editorial

von Roland Nachtigäller

Die Inszenierung des Körpers scheint geradezu konstitutiv für den sozialen Menschen zu sein. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass jemand sich nicht in Szene setzt, setzen kann, wenn er in Kontakt mit anderen ist. Jede Interaktion, schon im Kleinkindalter, ist darauf ausgerichtet, im Spiegel des Gegenübers eine Reaktion hervorzurufen. Folgt man Jacques Lacan, so ist die erste bewusste Begegnung mit sich selbst – sei es nun in einer reflektierenden Oberfläche, wie sie den Narziss-Mythos begründet, oder im mimischen Spiegel der Eltern – der Moment, in dem sich das Ich entwickelt, Persönlichkeit ausbildet und die Autonomie des Menschen als Erkenntnis über die eigene Wesenheit ihren Lauf nimmt.

Fortan spielen die Fragen „Wie werde ich gesehen“, „Wie sehe ich mich selbst“ und „Wie will ich gesehen werden“ eine wesentliche Rolle für die soziale Interaktion und damit auch für die eigene Inszenierung. Schon rituelle Körperbemalungen, aber auch Tattoos und Schminke weisen gezielt in die Richtung der Überführung des Körpers in ein Bild. Kleidung ist in dieser Lesart die Ablösung des Ornaments und der Gestaltung von der Körperoberfläche. Textilien werden damit – neben ihrer rein dienenden Funktion als zweite, wärmende Schutzhülle – zu Bildelementen und der Körper zum Bildträger. Muster, Farben und Formen verschmelzen gemeinsam mit dem Träger zu einem Ganzen, das wir als mehr oder weniger charaktervolle Erscheinung, als Persönlichkeit zwischen Individualität und Uniformität wahrnehmen.

Zugleich aber verselbständigt sich die Mode – erst recht in den künstlerisch experimentellen Formen der Haute Couture – zu einer eigenen Gestaltungswelt. Die Suche nach Identifikation von stilprägender Hülle und schutzwürdigem Leib wird zugunsten einer Bildproduktion aufgegeben, die in gewisser Weise autonom vom Individuum wird. Der Körper bleibt zwar Träger der Zeichen und Gestaltungen, doch spiegeln sie nicht mehr komplexe Innenwelten, sondern werden zu Aneignungen und Interpretationen von bereits vorhandenem.

Das ebenso wegweisende wie elegante Mondrian-Kleid von Yves Saint Laurent, das er erstmals in seiner Herbstkollektion 1965 präsentierte, mag dafür exemplarisch stehen: Es betont nicht den weiblichen Körper, sondern nimmt ihn als Gerüst für eine abstrakte, aus der Kunstgeschichte entlehnte Komposition. Während die ursprünglich zweidimensionale Malerei in eine belebte Körperlichkeit übersetzt wird, tritt zugleich das Individuum als nach Ausdruck und Selbstdarstellung suchendes Wesen zurück zugunsten der Präsentation eines abstrakten Bildes.

An dieser Stelle setzt auch die Arbeit von Maria Visser an. So verlässt sie ganz bewusst den etablierten Kontext der autorengenerierten Modewelt und positioniert sich im traditionellen, geschichtsträchtigen Kunstzusammenhang. Zugleich aber flutet sie den Ausstellungsraum mit Zeichen und Elementen des Catwalks, präsentiert Kleider und Settings, Dekorationen und Models als flüchtige Wanderer zwischen den ganz verschiedenen Bedeutungsebenen. Skulpturen und Raumelemente, Tanz und Musik, Bühne und Ausstellungsraum, Musikvideo und Modemagazin, Besucher und Akteure – in den Projekten von Maria Visser verschwimmen die Trennungen und eröffnen zugleich ein vielstimmiges Bedeutungsfeld. Einzelne Dachlatten bilden Wörter, die wiederum als Stoffstreifen zu T-Shirts werden, historische Erzählungen der Hexenverfolgung mischen sich mit mehrsprachigen Schimpfwörtern für Frauen, während junge Männer und Frauen eine Kleidung vorführen, die nicht für ihre Körper gemacht zu sein scheint: Steife, feste Stoffe in überwiegend Grau, Weiß und Silber, Lederimitat, Fell und Trikot. Sie schmiegen sich nicht an die Leiber, sondern „bezeichnen“ sie, rahmen sie und formen kompakte Oberflächen und geometrische Volumen fast in der Tradition der Schlemmer-Bühne.

In Vissers Präsentationen vermischen sich Aneignung und Neuschöpfung zu einem eleganten und stilvollen Amalgam, das sich selbstbewusst in den Kunstraum drängt und zugleich die Grenzen der Kunst weit in den gesellschaftlichen Raum verschiebt. Indem sie die Oberfläche der modischen Gestaltung als solche thematisiert, emanzipiert sie sie zugunsten einer individuellen Zeichenwelt, die reich gefüllt ist mit sozialen und alltagskulturellen Bezügen. Aneignung ist bei ihr Uminterpretation, Formfindung ist Kommentierung, und die Präsentation im Ausstellungsraum ebenso wie im Pseudomodemagazin ist eine Erzählung, die die Zeichen und Codes souverän miteinander in einen Dialog setzt. Vissers „Mode“ reflektiert nicht mehr das Individuum mit seinen inneren Darstellungswünschen, sondern die Gesellschaft mit ihren Zwängen und Widersprüchen.


– aus CHIC Issue 2, Y2K17 (2018)