Mode entspringt heute längst nicht mehr nur einem Bedürfnis des Körpers nach Schutz vor äußeren Einflüssen. Vielmehr ist sie ein komplexes System, das spätestens seit der Neuzeit vor allem zum „Self-Fashioning“ (Stephen Greenblatt) als einer speziellen Form der Selbstgestaltung eingesetzt wird. Die optische Aufwertung einer Person durch eine bestimmte Form der Inszenierung, die auch die dazugehörigen Accessoires wie Schmuck mit einbezieht, soll positiven Einfluss auf ihren gesellschaftlichen Status nehmen. Natürlich spielen dabei auch weiterhin finanzielle Barrieren eine Rolle. Aber während diese Vorzüge der Selbstinszenierung früher vor allem einer privilegierten Oberschicht vorbehalten waren, sind sie heute – nicht zuletzt durch die Entwicklung eines weltweiten Markts – nahezu jedem zugänglich. So hat beispielsweise auch die Entstehung von Modeschmuck zu dieser Verbreitung ihren Beitrag geliefert. Ganz gleich, ob es sich um eingefärbte Glasperlen als Edelsteinersatz im alten Ägypten handelt oder um Strass-Steine aus einer Glaspaste, die hart genug ist, um sie im Brillantschliff zu bearbeiten – indem wertvolle Materialien durch günstigere Werkstoffe eingetauscht wurden und indem aufwendigere Fertigungsprozesse schließlich durch industrielle Serienproduktionen abgelöst wurden, sollten diese Prestigeobjekte für eine größere Zahl von Menschen erschwinglich werden.
Demokratisierungsprozesse dieser Art sind es, die auch die Künstler*in Maria Visser in ihrer Arbeit in den Fokus nimmt. Auf den ersten Blick unterscheiden sich ihre tragbaren Skulpturen zwar kaum von echter „Kleidung“ und ihre Schmuckkollektionen könnten so auch im Handel verfügbar sein. Doch auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich dabei keinesfalls um funktionale Bekleidung oder auf Nutzbarkeit angelegten Schmuck handelt. Stattdessen geht es in ihren Werken um aktuelle Phänomene wie die identitätsbildende Funktion von Mode sowie um komplexe Aneignungs- und Umwertungsprozesse von High zu Low Fashion und umgekehrt.
Mit ihrer Arbeit, die sich an der Schwelle zwischen Kunst und Mode bewegt, steht sie in einer gewissen Tradition von Künstler*innen, die die Grenzen zwischen der bildenden und der angewandten Kunst auflösen wollten, um die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Vor allem die Künstler*innen der frühen Moderne erhoben für ihr Schaffen vielfach einen gesellschaftsutopischen Anspruch, der die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Disziplinen überflüssig machte, da hierfür alle zur Verfügung stehenden Mittel zum Einsatz kommen sollten. So haben Künstler*innen wie der Futurist Thayaht (sein richtiger Name war Ernesto Michahelles) auch Kleidungsstücke erfunden, mit denen sie dem kapitalistischen Charakter der Mode gezielt etwas entgegensetzen wollten: Der Entwurf von 1919 für die „Tuta“ zielte darauf, die Gesellschaft zu revolutionieren. Dieser Overall sollte von jedem selbst geschneidert werden können und wie eine Art Uniform soziale Differenzen aufheben, die sich unter anderem an prestigeträchtiger Kleidung festmachen lassen. Seine Idee von einer universellen Einheitskleidung fand in den großbürgerlichen und aristokratischen Kreisen Italiens durchaus ihre Anhänger, eine wirkliche Massenbewegung wurde sie jedoch nie (1). Obgleich Maria Visser keinesfalls den Anspruch erhebt, tragbare Modeentwürfe für eine ideale Gesellschaft zu entwickeln, ist der Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit ebendieser Reiz des Alltäglichen. Denn im Gegensatz zu klassischen Skulpturen ist es gerade ihre Profanität, die der Mode ein gewisses revolutionäres Potential verleiht.
So zeigt sich auch in den Schmuckkollektionen von Maria Visser eine gewisse gesellschaftspolitische Perspektive: Während Marken und Logos vor allem dem Prestigegewinn dienen, gibt es zahlreiche Beispiele, in denen das Kleidungsstück (bevorzugt das T-Shirt) durch Schriftzüge zum Träger einer (politischen) Botschaft wird. Visser greift diese Idee des Körpers als Träger eines Texts, der Ausdruck einer inneren Haltung ist, in ihrer Schmuckkollektion auf. So zitiert und variiert sie Worte aus verschiedenen Kontexten und appliziert sie gewissermaßen am Körper: Der Ohrring mit dem Schriftzug „ähmbody“ bezieht sich auf den Begriff „Mbody“ (verkörpern), der in den sozialen Medien oftmals auch im Zusammenhang von Mode Verwendung findet. Indem sie diesen Begriff, der ursprünglich mit Aspekten der (feministischen) Selbstermächtigung in Verbindung steht, um eine Verlegenheitsfloskel (Ähm) erweitert, beleuchtet sie kritisch-ironisch seine missbräuchliche Verwendung im Lifestylekontext. – Mit „J'aime du voyage“ (Ich liebe es zu reisen) bezieht sich Visser auf eine Modekampagne des französischen Luxuswarenherstellers Luis Vuitton: In der mit „L'âme du Voyage“ (Die Seele des Reisens) betitelten Fotostrecke des Unternehmens waren Models mit Koffern zu sehen, die die Freiheit des Reisens mit modischer Eleganz verbanden. Visser eignet sich das Werbeversprechen dieser Kampagne an, indem sie es zu einem Selbstbekenntnis umformuliert und in einen Halsschmuck aus Silberdraht übersetzt. Ganz im Gegensatz zu markanten Werbeslogans aus großen Lettern, wirkt der Schriftzug aus einer Linie jedoch fragil und wie eine Art Attrappe. Ebenso wie der auf gleiche Weise gefertigte Kopfschmuck „What has the future in store for me?“ (Was hält die Zukunft für mich bereit?). Damit spielt Visser auf ein Projekt an, für das die Künstlerin Coco Capitán 2017 mit dem Modelabel Gucci zusammenarbeitete und von dem sich das Modeunternehmen einen positiven Imagetransfer erhoffte: Handgeschriebene Aphorismen der spanischen Künstlerin wurden auf Unisex-Kleidungsstücke wie Sweatshirts, T-Shirts, Hoodies, Rucksäcke, Mäntel und Gürteltaschen gedruckt. Begleitend zu dem Launch dieser Kollektion veröffentlichte Gucci ein Wandbild an einer Hausfassade in der Lafayette Street im südlichen Manhattan, auf der unter anderem die Frage „What are we going to do with all this future?“ (Was werden wir mit all der Zukunft anfangen?) geschrieben stand(2).
Ergänzend zu diesen Schmuckstücken, präsentiert Maria Visser eine Kollektion von Ohrringen, Ringen und Broschen aus lackiertem Holz, bei denen sich die Buchstaben überlagern, so dass der Text nahezu unleserlich ist. Entschlüsselt man diese enigmatischen Botschaften, so entziffert man Abkürzungen und Gleichungen, wie sie in der Handykommunikation per SMS geläufig sind: So steht „<3“ für ein Herz, mit dem man dem Empfänger der Nachricht seine Zuneigung ausdrücken möchte. Und bei „Y2K17“ handelt es sich um eine Abkürzung für die Jahreszahl 2017, wobei Y für Year, also Jahr, und K für Kilo, also Tausend steht. Der Schriftzug „Futur-X“ – der zugleich der Titel ihrer Kollektion ist – macht eine Art Rechnung auf: Die Zukunft minus eine unbekannte Zahl X. Dabei bezeichnet die Variable X die „Strecke, die man zurücklegen muss, um das Zukunfts-Ich, das Ideal, das angestrebte Image zu erreichen.“ (Maria Visser)
Das Armband aus transparentem Plexiglas erinnert an eine Digitaluhr, die stehengeblieben ist. Zu erkennen sind fünf Uhrzeiten (3): So steht beispielsweise 23:28 Uhr für die Zeit, an der man gewöhnlich am Wochenende ausgeht, 5:47 Uhr kehrt man von der Party zurück, um gegen 7:36 Uhr am Montagmorgen wieder zur Arbeit aus dem Haus zu gehen. Was genau zwischen diesen Zeiten passiert, ist dem Erfahrungshorizont und der Fantasie der Betrachter*innen überlassen. Überlagern sich alle fünf Uhrzeiten des Armbands, so scheinen sie sich gegenseitig aufzulösen wie bei einem totalen Reset (88:88).
Der Begriff „Chic“ schließlich, findet sich nicht nur in Form von Ohrringen oder als Kettenanhänger, sondern dies ist auch der Titel von dem Magazin, das die Künstlerin mit diesem Heft bereits in der dritten Auflage herausgibt. Ebenso wie mit ihren an Modeschmuck orientierten Skulpturen greift sie mit diesem Publikationsformat ein Medium auf, das der Verbreitung von Modetrends dient: So stellten Magazine wie Harper’s Bazaar (erstmalig erschienen 1867 in New York) und Vogue (erstmalig erschienen 1892 in Paris) mit ihren rasch steigenden Auflagehöhen sicher, dass modische Tendenzen der oberen Schichten schnell von der breiteren Bevölkerung übernommen werden konnten.
Ganz gleich ob in ihren Kleidungs- oder in ihren Schmuckkollektionen, Maria Visser greift gekonnt die Chiffren der Modebranche auf, variiert sie spielerisch und deutet sie um. Damit beleuchtet sie nicht nur kritisch die dahinterliegenden Strategien der Kommunikation und Verführung, sondern betont zugleich das gesellschaftsverändernde Potential, das in diesen am Körper getragenen Materialisierungen steckt. Sie zeigt, dass Mode sowohl Ausdruck unserer Träume, Wünsche und Sehnsüchte sein kann als auch als wie eine Art Code funktioniert, mit dem man bestimmte Botschaften senden kann, die – sofern sie auf ein verständiges Gegenüber treffen – ein besonderes Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln und Identität stiften können. So schöpft Maria Visser aus diesem unendlich inspirierenden und zugleich beunruhigenden Fundus der Welt der Mode, die mehr oder weniger jede*n von uns betrifft, und die gleichermaßen als Spiegel einer Gesellschaft und als Projektionsfläche für ihre mögliche Zukunft dient.
Die Metapher der Prothese wird oft bemüht, wenn es gilt die Bedeutung von Kleidungsstücken hervorzuheben, in Zeiten einer Pandemie erhält sie jedoch nochmals eine ganz neue Dimension: Noch zu Anfang 2020 war der Mund- und Nasenschutz ein gesellschaftliches Phänomen, das aufgrund der zahlreichen SARS-Vorläufer vornehmlich im asiatischen Raum anzutreffen war. Spätestens mit der aufkommenden Pandemie war das hinter einer Schutzmaske verhüllte Gesicht das globale Bild schlechthin für eine Erweiterung des menschlichen Körpers, die in ihrer Hauptfunktion den Schutz vor einer (unsichtbaren) Gefahr gewährleisten sollte. Es dauerte jedoch nicht allzu lange bis die Modeindustrie das Potential bei diesem neuen »Accessoire« erkannte und entsprechende Masken mit aufwendiger Gestaltung in den Handel brachte. Als medizinisches Utensil eingeführt vollzog die Schutzmaske eine traumwandlerische Metamorphose zu einem Modegegenstand, der nicht mehr alleinig die Zweckmäßigkeit als erklärtes Ziel hatte, sondern nun auch ein ästhetisches Bedürfnis bei seinen Träger*innen stillen sollte.
Dieser kleine Exkurs in unsere von Covid-19 geprägte (oder besser geplagte) Gegenwart soll vor Augen führen, inwieweit ein kleines Stück Textil nicht nur unser Äußeres auf das Gravierendste verändert, uns sozusagen in einer Notsituation auf makabre Art und Weise zu einer ornamentalen Masse vereinheitlicht, sondern unser komplettes Erscheinungsbild dahingehend radikal transformiert, als dass wir ohne sichtbare Mimik zunehmend unheimlichen Schaufensterpuppen gleichen. Selbst in einer existenziellen Pandemie-Situation ist demnach die Sehnsucht nach Individualität mittels des äußeren Erscheinungsbildes ein tiefes menschliches Bedürfnis.
Maria Vissers Arbeiten handeln (glücklicherweise) jedoch nicht von den Begleiterscheinungen der Pandemie, sondern von Kleidung im weitesten Sinne und dessen vielfältigen Ausformulierungen. Ursprünglich von der Malerei kommend begann Visser bereits früh im Studium sich vermehrt mit Kleidung und deren kulturellen Prägung als Mode künstlerisch anzunehmen und bedient sich dabei ebenjener Medien, die üblicherweise mit dem Modebereich assoziiert werden. Ein treffendes Beispiel ist das von ihr, noch zu Studienzeiten, gegründete und konzipierte Magazin »CHIC«, dass sowohl in seiner Bildsprache als auch hinsichtlich des Formats auf das weltberühmte VOGUE-Magazin verweist. Für ihre vorliegende Ausstellung »Future in Store« produziert Visser nun die dritte Ausgabe des CHIC-Magazins, das sich genauso wie der Ausstellungstitel mit der im englischsprachigen Raum gängigen Redewendung »What has the future in store for me?« beschäftigt. Der Begriff »store« ist dabei bewusst mehrdeutig zu verstehen, wird doch einerseits auf die aus dem Einzelhandel gängige Bezeichnung »in store« (dt. auf Lager) angespielt, als auch die Ungewissheit der Zukunft.
In der dargelegten Abkürzung der genannten Frage wird gewissermaßen, auch mit seiner Ambivalenz auf eine zentrale psychologische Botschaft von Kleidung und Mode angespielt, die - von den Herstellern in saisonalen Kollektionen produziert - für ihre modeaffinen Kund*innen immer auch ein (ästhetisches) Sinnbild und Fixpunkt für die Zukunft darstellt. Die Bedeutung der räumlichen Inszenierung von Mode kann deshalb gar nicht hoch genug bemessen werden, sind doch sogenannte »cruise shows« in extravaganten Villen für große Modehäuser gängige Praxis geworden, wo kaufkräftigen Stammkund*innen die zwischensaisonalen Kollektionen exklusiv präsentiert werden. Dieser architektonische Aspekt der Inszenierung wird von Visser auf vielfältige Weise künstlerisch aufgegriffen, indem sie beispielsweise Architekturminiaturen zu Beginn jeder neuen Arbeit schafft und damit gewissermaßen die räumliche Inszenierung als Parallelprozess ihrer Kollektionen stattfinden lässt. Eines dieser Miniatur-Modelle mit dem Titel »Space Stores Condensed Time« führt exemplarisch vor Augen, inwiefern der Raum sich gleich einem Kokon um die jeweilige Arbeit schmiegt.
Die Einbeziehung der Architektur spielt dahingehend eine zentrale Rolle in Vissers Werk, als dass die Schaffung von eigenen Kollektionen und deren Präsentation mittels eines »Défilés« essentieller Teil ihrer Arbeiten darstellt. Was zu Prä-Pandemie-Zeiten noch als Performance stattfinden konnte, muss nun mittels digitaler Hilfsmittel realisiert werden: Ihre eigens gestalteten Mode- und Schmuckkollektionen »Futur X«, »Facades« und »Comb Through Gills« werden von Models vor einem green screen vorgeführt und nachträglich in das Miniaturmodell übertragen. Die ohnehin kühle Ästhetik der futuristisch anmutenden Arbeiten erfährt durch die digitale Produktion noch eine artifizielle Steigerung. Im Hinblick auf die »Futur – X«-Kollektion wird die Bildhaftigkeit der Träger*innen besonders deutlich.
Visser bedient sich bei der Gestaltung ihrer Objekte kryptisch anmutender Textzeichen und Symbole, die sich nicht einfach in dekorativer Weise der menschlichen Silhouette unterordnen, sondern vielmehr eine ästhetische Eigenständigkeit beanspruchen und darin den/die Träger/in gewissermaßen als physische Erweiterung traditioneller Präsentationsmöglichkeiten interpretieren. Der Mensch erfährt durch das Tragen der oftmals sperrig anmutenden Objekte eine skulpturale Qualität, die sich in Kombination mit der Rätselhaftigkeit der eingesetzten Zeichensysteme umso stärker den flüchtigen Avantgarde-Gedanken unterstreicht. Als Träger eines bestimmten »Images« wird der Mensch sozusagen selbst zu einem Zeichen einer diffusen Zukunftsvorstellung. Darin kann man eine Parallele zu Ferdinand de Saussures Zeichentheorie erkennen: Mittels der Hinzufügung der Prothesen, respektive Modeobjekte, wird der Mensch zu einem Bedeutungsträger (Signifikanten) eines Vorstellungsbildes (Zukunft), das nie fix, sondern immer in permanenter Entstehung begriffen ist.
Maria Vissers künstlerisches Schaffen zeichnet sich durch eine Vielschichtigkeit aus, die an der Schnittstelle zwischen Skulptur, Performance, Installation und Publikation operiert und darin scharfsinnig die Mechanismen der Modewelt offenlegt, ohne dabei wertend zu sein. Ihre Eigeninterpretationen bekannter modischer Ästhetik-Codes lässt sie mittels verschiedener Ausdrucksformen spielerisch miteinander verschmelzen und dringt dadurch zum Kern der Modewelt vor, der sich als ein hochkomplexes Terrain offenbart, das in seiner vermeintlichen Oberflächlichkeit tiefe menschliche Sehnsüchte in sich vereint und darin in seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
– aus CHIC Issue 3, Future in Store (2021)