Ausstellungstext
Was ist ein Raum, der nicht durch konkrete Bestandteile – Gebäude, Umgebung oder Funktion – konstituiert wird, sondern einer, der durch eine Lesart von Handlungen entsteht? Was ist ein Raum, der weder konkret bewohnt, noch zeitlich konstant ist, der immer dann entsteht, wenn Personen durch Formen des Ausdrucks, des Redens und Handelns, zusammen kommen, die den Umrissen und Gesetzen des öffentlichen Raums vorausgehen? Damit meinen wir einen Raum, dessen Gemeinschaftlichkeit zwar in Verpflichtungen der Hochschule verankert ist, in ihnen aber einen kollektiven Inszenierungsort von Manifestationen schafft, in denen Affirmationen, Proteste, Verweigerungen oder Zelebrationen in flüchtigen Augenblicken zusammenkommen, sich wieder auflösen oder bestehen bleiben können, ohne unbedingt sichtbar zu sein. In diesem Raum könnte das Singuläre durch eine dezentrierte Triebkraft, durch die Pluralität ihrer Möglichkeiten, durch die Willkür des Prinzips des „whatever"1, gestört werden.
Das Wort „Organisation” kann auf zweierlei Weise beschrieben werden: zum einen als Prozess der Ordnung, zum anderen als eine Gruppe von Akteuren, die in gemeinsamer Sache handeln. Angesichts dieser doppelten Bedeutung wird Selbstorganisation in der Kunst sowohl zum Prozess selbstbestimmter Organisation als auch zu einem Gefüge. Das ist eine Organisation, die von Teilnehmern unter ihren eigenen Bedingungen geschaffen wird – im Gegensatz zur Organisation, die für sie geschaffen wird, um ausschließlich in ihren gesetzten Parametern zu handeln.2
Diese Themen und Fragen haben wir vor einiger Zeit zusammen in der Klasse diskutiert. Womöglich beginnt die Idee eines Raumes mit dem Wunsch, eher aus einem Bedürfnis heraus zu arbeiten, statt aus Vorsorge, wo Planung durch Initiieren ersetzt, ein Impuls zum Ausgangspunkt wird, ohne Anspruch auf laufende Kontrolle. Wo die Fähigkeit des Zusammentreffens in momentanen Gesten darin liegt, Handlungen sowohl zu inszenieren als auch als das zu lesen, was sie sind – eine soziale Produktion von Raum durch Organisation/De-Organisation von zu Schaffendem und Geschaffenem im provisorischem Ausstellungsraum, dem Open Studio: wo sich unterschiedliche Spuren von Präsenzen, persönliche, soziale oder kollaborative vergegenwärtigen und verstricken, während in die eigene Geschichte der Klasse hinein projiziert wird.
Elisa R. Linn & Lennart Wolff KM Temporaer
Folgt auf das Zeitalter des Hyperindividuums eine neue Form der Kollektivität? Was wiegt gemeinsame Erfahrung? Und was bedeutet der Rückzug des Einzelnen für die Kunst?
Die Klasse Frances Scholz der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig konzipierte diese Gruppenausstellung bewusst nicht als Genieschau autonomer Werke, sondern nimmt die Relationen zwischen Kollaborationen und Einzelposition in den Blick.
Der Ausstellung ging ein Zine-Workshop mit den US-amerikanischen Künstlern V. Vale und Marian Wallace voraus, in dem die Malereiklasse Konzepte künstlerischer Selbstbeschränkung sowie Konsum- und Erfolgsverweigerung untersuchten. Das im Ausstellungstitel formulierte Nein als Konsens nimmt auf Mechanismen der Kunstwelt ebenso Bezug, wie auf hochschulpolitische Zwänge. Gleichzeitig beschreibt er einen gestalterischen Ansatz: kann Rückzug, auch aus dem Bild selbst, eine Form des Protests sein?
Ebenso wie bei ihrer Gruppeninstallation Kennen Sie Turner?, die im April dieses Jahrs im New Yorker Projektraum Shoot the Lobster gezeigt wurde, entstand die aktuelle Ausstellung gemeinschaftlich und ortsgebunden. Widersprüche und Störungen aber auch Einheit und Stärkung, die aus dem kollaborativen Schaffensprozess hervorgehen, werden sichtbar gemacht. Die aus diesem Prozess entstandenen Arbeiten entziehen sich der Idee einer singulären Autorenschaft und ergeben eine leichte und doch präzise Gesamtheit, die weder Veränderung noch Hinzufügung zulässt.
Die Einsicht, dass Veränderungsprozesse nur gemeinsam gestaltet werden können lässt sich aus dem Werk der Klasse Scholz ebenso herauslesen wie das Unbehagen über den Mangel gesellschaftlicher und ökonomischer Utopien.
Text Diana Weis / 2017