Die Eingebundenheit der Dinge

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DIE EINGEBUNDENHEIT DER DINGE


Nora Brünger



Der Druck eines Körpers verändert eine Masse, die Masse selbst setzt sich der Kraft des Modellierens entgegen, sie drückt dagegen. Bei der Serie Gegendruck kalt (2019) handelt es sich um fünf Fotografien, auf denen sich ein Block mattweißer Modelliermasse in verschiedenen Bearbeitungsstadien zu erkennen gibt. Ähnlich einer Porträtreihe wurde die Masse in verschiedenen Stadien – teils eingedrückt oder gewalzt – in ihrer variablen, doch immer nahezu ovalen Form festgehalten. Den Hintergrund bildet ein Stück Papier, das im Kontext der Arbeit Vase_warm (2019, s.o.) als Backpapier erkennbar ist. Aggregatzustand und Widerstand des Materials sowie die eigene, verkörperte Bezugnahme – das Drücken und Gegendrücken, das Fühlen der Temperatur mit der Hand – offenbaren Sabine Müllers forschend-experimentierende Herangehensweise. Dieses Zusammenspiel zwischen Künstlerin und Material kann als Dialog verstanden werden, der einen grundsätzlichen Modus ihrer Arbeiten bildet. Was geben die Objekte vor, was erzählen sie uns über sich und über unser gemeinsames Dasein, was erzählt uns ihre räumliche und zeitliche Präsenz, was gibt ihr Zustand preis? Das Interesse an Objekten und ihren Geschichten erinnert an die Arbeit einer Naturwissenschaftlerin, die sich mit Wissbegierde ihrem Gegenstand nähert.[1] In Sabine Müllers Arbeiten lässt sich dieses forschende Interesse jedoch als eines erkennen, das nicht nach der vermeintlich neutralen Objektivität strebt. 


In machtkritisch und feministisch informierten Diskursen gibt es inzwischen einen weitläufigen Konsens darüber, dass Menschen ohnehin nicht ‚von außen‘ oder neutral auf Situationen schauen können. Sie nehmen die Welt wahr und sprechen immer aus einer Position heraus, die (auch von der Körperlichkeit ausgehend) situiert ist.[2] So treten wir selbst als objekthaft in Erscheinung – als Materie umgeben von Materie.[3] Menschen selbst tauchen in Sabine Müllers Arbeiten zwar nicht als Akteur*innen auf, es finden sich aber ständig Verweise auf menschliches Tun: Was ist passiert, welche Interaktion ging dieser Gegebenheit voraus, welche Spuren sind hier hinterlassen worden? Häufig handelt es sich um Dinge und Situationen, die im Alltag immer wieder vorzufinden sind und die in ihrer Schablonenhaftigkeit etwas über das menschliche Dasein erzählen können, wie etwa die Vasen oder Flaschen mit ihrem klaren formalen und funktionalen Schema: Es gibt ein Innen und ein Außen und eine Öffnung, die zum Hinein- oder Herausströmen dient. Die Form der Vase oder Karaffe gibt eine Anordnung vor. 


Das Bemerken einer sich wiederholenden Form oder Situation – die sich sowohl im Schema von Behältnissen als auch in zwei ‚zweckfrei‘ aneinander geketteten Fahrradschlössern oder einem nachlässig stehen gelassenen, vielleicht aber auch lässig an einen Bauzaun gelehnten Mauerstein zeigt – führt Sabine Müller zu einem genaueren, phänomenologischen Hinschauen. Den Arbeiten wohnt eine Haltung inne, offen an die Welt und die Dinge heranzutreten, ohne im Vorhinein zu wissen, was sie uns zu sehen und zu denken geben werden. Die Objekte der alltäglichen Umgebung sind es, an denen sie sich orientiert – etwa im urbanen Raum, in der Landschaft oder im Interieur. Also in denjenigen Räumen, in denen Menschen sich verorten, in denen die Wechselwirkungen und Interaktionen zwischen Mensch und Ding sich am deutlichsten verzahnen: in der Gestaltung eines Zuhauses, das Normierungen unterliegt und normieren kann, auch, indem es Orientierung bietet.

 

„Orientiert“[4] zu sein bedeutet, sich zuhause zu fühlen, zu wissen, wo man steht, oder bestimmte Objekte in Reichweite zu haben. Körper nehmen Gestalt an, indem sie sich durch die Welt bewegen und sich Objekten und Anderen zu- oder abwenden. Orientierungen wirken sich darauf aus, was dem Körper am nächsten ist oder was erreicht werden kann. Das Zuhause ist immer auch ein Verweis auf gesellschaftliche Konventionen. Eine queere Phänomenologie, so erläutert die Philosophin Sara Ahmed, offenbart, wie soziale Beziehungen räumlich angeordnet sind, wie Queerness diese Beziehungen stört und neu ordnet, indem sie nicht den akzeptierten Pfaden folgt. Ahmed zeigt auf, wie eine Politik der Desorientierung andere Objekte in Reichweite bringt, die auf den ersten Blick schräg erscheinen mögen – wie etwa die Fahrradschlösser, die keine Fahrräder abschließen, sondern einander festhalten. Ihnen widmet sich Sabine Müller neben anderen subtil auffallenden, eher beiläufigen und häufig zugleich melancholisch und humorvoll anmutenden Objekten des Alltags. Diese bekommen ihren Platz etwa in Zeichnungen der Serien Y? (seit 2018) oder Assistiert (2018). Eine Brille, ein Haargummi oder eine Beißschiene, festgehalten und versammelt als Zeichnungen, bekommen einen persönlichen Status, der ihrer Bedeutung Rechnung trägt. In die Beziehungsgeflechte, auf die wir uns verlassen können und müssen, dürfen hier auch nahe Gegenstände als Agierende einbezogen werden. Dieser radikal offene Blick, mit dem die Relationalität in Sabine Müllers künstlerischen Arbeiten gedacht werden kann, ermöglicht eine Offenheit gegenüber der Frage, auf wen wir uns verlassen können und wollen – es verquert den Beziehungskontext.


Eine Auseinandersetzung mit dem Interieur – das neben Landschaft und urbanem Raum das Habitat der Dinge bildet – findet in einer im besten, spielerisch-kritischen Sinne verquerenden Weise im Motiv des Kamins u.a. im Rahmen der Installation Dramatischer Kaffee im Kaminzimmer (2017) statt. Es enthält einen Kamin aus brennbarem Nadelholz, feuerfeste Keramiken in Form eines Kaminfeuers, einen an Historienmalereien erinnernden, lakonisch umgekippten Dramatischen Kaffee über dem Sims und schablonenhafte Karaffen, die ihr Wesen preisgeben, indem sie ihren Inhalt und ihre Materialität präsentieren, flächig wie ein naturwissenschaftlicher Querschnitt. Die karaffenförmigen, aus roher, unglasierter Keramik gefertigten, flachen Objekte zeigen unterschiedliche Schattierungen und darin abstrakt-geometrische Formen des Tons, die zugleich den Inhalt der Gefäße andeuten. Die Installation bezieht sich auf das Zuhause, das Verortet-Sein im Mikrokosmos. Der Kaminsims als Präsentations- und Repräsentationsort wird ad absurdum geführt, während sich die Bestandteile des Interieurs als das Klischee ihrer selbst offenbaren. Das gesamte Interieur wird hier, aufgereiht an der Wand, zum Bild im Ausstellungsraum. In einer später entstandenen Installation bekommt der Kamin eine neue Umgebung zur Seite gestellt: Kamin/Sunset (2021) zeigt ihn in einer eher landschaftlichen Szene. Das keramische Kaminfeuer ist auch hier anwesend, es findet sich jedoch in der Ausstellung UMBRA (2021) zusammen mit der Installation Einer und Vier (2020) als urbanes Lagerfeuer wieder. Es geht hier weniger um die Raumerfahrung als vielmehr um das Bildhafte der Arbeiten, die sich in den unterschiedlichen Konstellationen in ihrer Bedeutung verändern.


Einstweilen formieren sich nicht nur Sabine Müllers eigene Arbeiten zu verschiedenen Konstellationen, sondern auch die anderer Künstler*innen, die etwa für Amphora Home (2016) in die Produktion des Werks eingeladen wurden. Hier ist der Raum das paradigmatische Zimmer, ein Container, dessen Regeln gesetzt sind: Wer kümmert sich um den Fußboden, wer stellt ein Fenster zur Verfügung, wie entsteht ein gemeinsamer Raum, der als Konglomerat funktioniert? Die Installation ist bei Sabine Müller also auch der Ort, an dem der gegenseitige Einfluss im Nebeneinander von Kolleg*innen zum Miteinander und zum Prinzip wird. Einen wichtigen Moment in ihrer kollaborativen Arbeitsweise bildet dabei die Installation Meier guckt Kunst (2015): Mittels Foto- und Videodokumentation dürfen wir dabei sein, wie die Künstlerin ihrer Katze Meier eine eigene Ausstellung zur Verfügung stellt. Durch den Blick der Katze – oder vielmehr unseren Blick auf das Tun der Katze – in Interaktion mit den keramischen Objekten, ihren Öffnungen, den Oberflächen und Vertiefungen der Kunstwerke, erhält die Ausstellung eine eigene Mobilität (s.o.). Die Künstlerin schafft das Setting, das die Katze einlädt und uns die Möglichkeit gibt, dieser Situation beizuwohnen und so dem Blick der Katze und damit einer anderen Perspektive auf die Ausstellung zu folgen. Wenn Meier ihren Kopf in Öffnungen verschwinden lässt, Keramik und Katzenkörper einander spiegeln oder wenn eine Form, die etwas schräg auf zwei kleinen (Vorder-)Beinen steht, ihren Schlund auffordernd in Richtung Kamera öffnet, verschiebt sich das Wesen der Objekte im Raum.


Das Arbeiten mit Situationen und Relationalität zeigt sich in voller Bandbreite in Sabine Müllers Praxis, die im vorliegenden Katalog als solo und non solo unterschieden wird – nie jedoch trennscharf einer der beiden Kategorien zuzuordnen ist. Die Trennung vollzieht sich dort, wo Lebewesen wie die Katze Meier oder KoIIeg*innen zur Arbeit hinzukommen oder Arbeiten und Situationen im Kollektiv entwickelt werden. Der Fiktion einer Singularität künstlerischer Praxis gibt sich Sabine Müller gar nicht erst hin. Vielmehr geht es um die Frage, wie die Dinge zueinander in Beziehung stehen, in Bewegung bleiben und ihre Geschichten doch für den Moment festgehalten werden können. Aber auch darum, wie die Künstlerin selbst zu ihnen in Kontakt tritt. Sie scheint das hervorzulocken, was sich aus den spezifischen Konstellationen der objekthaften, menschlichen und tierischen Wesen des Alltags ergeben kann. Darunter schimmert ein Fragen nach der Gültigkeit von Festlegungen: Wann ist etwas noch „hier“ und wann ist es schon „dort“? Wann mache ich etwas alleine und wann passiert es in Relation zu oder gemeinsam mit anderen? Wie verorten wir uns in der Welt und zu den Objekten, die uns umgeben, wer und was ist Objekt, was ist Subjekt? Wie bedingen unsere Zustände einander und wie lassen sich die Verhältnisse wenden? Sabine Müllers eigene Relation zu den Dingen, ihre Beobachtung des Vorgefundenen ist dabei schon etwas, das die Künstlerin „meins“ nennt, und Teil ihrer Arbeit: Sie analysiert die Interdependenz von Objekten und Lebewesen und erkennt darin Situationen wieder, die jeweils Konsequenzen und Kausalitäten mit sich bringen.



1 Sabine Müller hat vor ihrem Studium der Bildenden Kunst einen Magister u.a. in klassischer Archäologie und Philosophie absolviert.

2 Die Welt der Objekte nicht als etwas von menschlichem Sein Abgetrenntes zu betrachten, sondern den Dingen Handlungsmacht zuzusprechen, also Menschen in einem gemeinsamen Geflecht mit Dingen, Pflanzen, Tieren und geografischen/geologischen Gegebenheiten oder Gemachtem zu betrachten, ist nicht erst ein Thema, seit die Klimakatastrophe den Menschen einen neuen Blick auf ihr Eingebundensein in die Welt aufzwingt. Bruno Latour, der als Soziologe dazu angetreten ist, Gesellschaft nicht bloß von den Menschen her zu denken, setzt sich damit auseinander, wie Gegenstände selbst Kategorien vorgeben (und nicht etwa in diese gepresst werden), wie sie Unterschiede, Affekte oder Effekte bewirken können und Entwicklungen vorantreiben, verhindern oder Handlungen und Erzählungen ermöglichen können.

3 Der Kultursoziologe Richard Sennett geht sogar so weit zu behaupten, dass „die Fähigkeiten unseres Körpers im Umgang mit materiellen Dingen dieselben sind wie jene Fähigkeiten, auf die wir uns in sozialen Beziehungen stützen.“ (Sennett, R.: Handwerk. Berlin 2008, S. 384)

4 Die Philosophin Sara Ahmed beschreibt in ihrem Werk Queer Phenomenology: Orientations, Object, Others (Durham 2006), wie die philosophische Disziplin der Phänomenologie für Quere Diskurse nutzbar gemacht werden kann. Indem sie sich auf den Aspekt "Orientierung" in "sexuelle Orientierung" und den "Orient" in "Orientalismus" konzentriert, untersucht Ahmed, was es für Körper bedeutet, in Raum und Zeit verortet zu sein.