exhibition text for "tears and new tears" at Studio Kirchstraße 2, Bregenz
Ausstellungstext für die Ausstellung "Tears and New Tears" im Studio Kirchstraße 2, Bregenz
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Szene 1: Büro - Tag: Ich habe letzte Woche ein neues Café entdeckt, in welchem ein striktes Laptop-Verbot herrscht. Um ein gutes Klima zum Nachdenken zu schaffen. Durchatmen. Es liegt direkt auf dem Weg in mein Büro, von dem aus ich im Fenster die Passanten auf der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes gespiegelt sehe. Sie klettern wie Fledermäuse, kopfüber, die kristallenen Glasfronten des Gebäudes hinauf. Durch einen Effekt, welcher einer Camera obscura ähnelt, ist es bei einem bestimmten Einfallswinkel der Sonnenstrahlen möglich, durch die Spiegelung des gekippten Fensters, welches schrägnach unten zeigt, die Geschehnisse der Straße auf das daneben liegende Hochhausvorgeführt zu sehen. Wie eine Filmleinwand, überblenden sich die Einstellungen der Fußgänger mit der statischen Aufnahme der Fenster der Zentralbank. Natürlich kann das Fenster geöffnet sein, das Außen wahrnehmbar, sich jemand im Raumbefinden, doch die Einsamkeit überkommt einen. Man kann sie nicht ersuchen odererzwingen. Ganz behutsam muss man sich seinen Bau errichten, fluchtlinienartig alle Ein-und Ausgänge verbarrikadieren. Kein Eskapismus vor der Realität, nein. Die Feinde sollen vor Konfusion nicht mehr wissen, woher sie kamen, wohin sie wollen. Die verschachtelten Gänge sollen sie in die Irre locken, bis sie dem Urteil gegenüberstehen. Die Person liest von einem Blatt Papier in ein Mikrofon. Sie hält eine kleine Discokugel in ihrem Arm. Sie ist von verzückten Zuschauern umgeben, die im Halbkreis um sie herumangeordnet sind.
Beschreibung 1: Ein blauer Teppich mit bunten Punkten bedeckt den Boden des Galerieraums. Die Wand wird mit einem leicht rosafarbenen Licht beleuchtet und in gleichmäßigen Abständen werden Lichtpunkte reflektiert. Durch den Torbogen hindurch, kann man eine große Leinwand sehen. Auf dem von zwei silhouettierten Figuren teilweiseverdeckten Bild sind Kreaturen mit winzigen Gesichtern gemalt. Die Person ist ganz rosagekleidet. Sie hält ein Mikrofon und ein Blatt Papier in der Hand und steht umgeben von einer Menge im Kreis angeordneter Zuschauer vor dem Bild. Auf ihrem T-Shirt steht mit schwarzen, gut lesbaren Buchstaben „Vermisst“. Kylie ist kein Mädchen, sie ist eine ganze Kultur. Die Kulmination von allem, was in sie herein projiziert wird. Sie bildet die optimale Projektionsfläche. Mit Dankbarkeit nimmt sie dieses Geschenk Gottes an. Als ob man sich beim Henker dafür bedanken würde, dass er die Schlinge nicht zu eng gebunden hat. Ein unstillbarer Durst, nicht mehr separat zu sein, sucht sie heim. Alles, was sie will, ist sich nicht mehr zu fühlen, als wäre sie im Exil, wie ein verstoßenes Objekt. Ihr Pony ist ein wenig zu lang, sodass sie ihren Kopf leicht schütteln muss, um ihn aus den Augen zu bekommen.
Szene 2: Café - Tag: Es wäre zu viel, diese helle Kammer als Büro zu bezeichnen. Schon seit Monaten habe ich keinen einzigen Satz schreiben können und alles liegt an diesem Duras Buch, welches Camille mir gab. Meine Art zu schreiben habe sie daran erinnert. “Stets solle man beim Schreiben umhüllt von einer Abtrennung von den Anderen sein”, schildere ich Kylie und blicke dabei an ihr vorbei. Irgendwie fällt es mir heute schwer Augenkontakt zu halten.
“Hm?”, antwortet sie und blickt von ihrem Smartphone herauf. “Was meinst du?” “Ich habe das Gefühl niemals dazu zu kommen, mich einsam zu fühlen. Es ist mir nicht möglich” “Geh doch Mal in den Park oder so?”, sagt Kylie.
Langsam holt sie eine farbenfrohe Zeichnung mit Skizzen zweier Personen aus ihrer Tasche heraus. Sie holt weitere Schnipsel hervor und legt diese vor sich. Die ausgeschnittenen Figuren auf den Schnipseln verwandeln sich zu Teilen eines Bildes, und sie fängt an, darauf zu malen.
Doch ist mir in diesem Moment bereits klar, dass sie nicht versteht, wovon ich spreche. Das Schreiben ist eine der wenigen unkonditionellen Verausgabungen, welche nicht auf eine Kompensation oder Verbrauchbarkeit aus sind. Unproduktiv. Zwecklos. Dysfunktional. Das einzige Ziel ist der größtmögliche Verlust. Nach langem Schweigen und Stimulationen stehen wir auf, zahlen getrennt und ich begebe mich auf den Weg zurück ins Büro. Gelegentlich genieße ich es, neue Wege zu mir bekannten Orten zu gehen. Mich treiben zu lassen. Nachdem ich verschiedene staatliche Gebäude passiere, vor welchen bewaffnete Figuren umzingelt von Zellen aus Stahl im Kreislaufen, erreiche ich das Paradies. Wasser sprießt in unermesslichen Höhen aus dem Boden empor und fällt darauf erneut in sich selbst zusammen. Die kleinen Spritzer am Gipfelerzeugen vor der Kulisse des hellblauen Himmels ein Glitzern. Die Eleganz der Verführung und unser Einverständnis uns verführen zu lassen, wird für die Augen aller zur Schaugestellt. Perfektionierte Seduktion. Es fällt mir schwer, zwischen der Bewunderung der Erhabenheit und der reinen Machtausübung der Reproduktion eines Naturphänomens zu unterscheiden.
Beschreibung 2: Die Person wird von hinten durch einen hellen, weißen Bildschirmbeleuchtet. Das bewegte Bild im Bildschirm zeigt eine im Vordergrund schwach beleuchtete Figur aus unterschiedlichen Blickrichtungen. Eine Person beugt sich über ein E-Piano, ihr Haar fällt ihr ins Gesicht. Im Hintergrund läuft eine Projektion, mit dicken Buchstabenerscheint das Wort „Paradies“. Gleichzeitig kommt eine andere Person herein und knüllt die Zettel, die auf dem Boden liegen, zusammen und breitet anschließend eine herzförmige Leinwand vor sich aus, während ihre Augen wegschauen. Langsam fängt die Person am E-Piano an aus einem roten Buch vorzulesen: „The young girl is obsessed with authenticity because it's a lie.“ Sie ist eine Kultfigur und ein Außenseiter zugleich. Ihr ängstliches, manchmal unbeholfenes und schüchternes Wesen strahlt sich auch in ihren Bildern aus. Obwohl sie im Herzen wild ist, ist sie äußerst diszipliniert und bedacht in ihren Absichten.
Szene 3: Dimes Square - Tag: Autogeräusche ziehen von fern zu nah und erneut zu entfernt vorbei. Rush Hour, Pflasterstein, Hitze, Business Casual. Die Sonne reflektiert in den Glasfenstern des fünfzigsten Stockwerkes der Zentralbank die zerbrochenen Schaufenster des Handyreparaturladens, welcher letzte Woche erneut geplündert wurde. Ich frage mich wie lange es dieses Mal dauern wird, bis sich irgendein post-marxistisches Kollektiv zu den Taten bekennt und anhand der verwendeten Polizeitaktiken während der Demonstration (in diesem Fall: Kettling), den klaghaften Versuch des Empires, die Souveränität aufrecht zu erhalten, begründet. Körper werden immobilisiert. Der Raum zieht sich zusammen. Eine Träne läuft die Wange herunter. Politik ist keine Einstellung, es ist ein Handeln, eine Geste. Auf dem Tisch befinden sich etliche unfertige Manuskripte, Kritzeleien auf kleinen bunten Papieren, leere Cola-Light Dosen. Bereits zwei Jahre wohne ich hier, aber daran werde ich mich niemals gewöhnen können. Aus einer Gewohnheit lernt man üblicherweise schnell. Wiederholte Abläufe brennen sich in das Gedächtnis ein, als ob man die Uhrzeit an dem Anblick der Sonne ablesen könnte.
Beschreibung 3: Die Person hält nun mehrere Blätter Papier in der Hand, auf der bunte Pinselstriche und Fotografien zu sehen sind. Ihre Arme sind mit unzähligen Kordeln behängt. Eine Menschenmenge aus Zuschauern umringt sie, manche sitzend, manche stehend. „Dieses Auto ist sehr gruselig, ich weiß nicht warum… Die Welt ist ein Ort, an dem es unheimlich sein kann, unheimliche Dinge werden passieren, aber wäre es beängstigend, wenn die Welt untergeht, nein, weil das Ende der Welt bedeutet nichts. Nichts. Und Nichts kann nicht gruselig sein, weil wir nicht wissen, was Nichts ist, Nichts war nie eine existierende Sache in unserem Leben. Kannst du das Nichts definieren? NEIN! Was ist das Nichts?AaAAAaAAAAH. Es ist 4 Uhr morgens –es ist ein Konzept. Wir rennen einfach zur Wohnung der 55-Jährigen Dame und gehen in 5 Sekunden. Wir sind den ganzen Weg in der Kältegelaufen - Den GANZEN Weg. Wir haben Graffiti gemacht – Nein, wir nicht. Sorry, das war eine Lüge, eine Schwindelei, das war Trickserei. “Die Person ist umgeben von hingerissenen Zuschauern, die im Halbkreis um sie herumangeordnet sind. Es gibt in gleichmäßigen Abständen reflektierte Lichtpunkte, die den Raummustern. Nach langer Stille fängt das Publikum an zu klatschen.
Szene 4: Und dann musste ich daran denken, wie ich in der U-Bahn, zu dir saß. Die Landschaft akzeleriert Hand in Hand mit der Geschwindigkeit, “NYC” von Interpol wird durch den schlechten Empfang auf der YouTube-App unterbrochen, die Gebäude expandieren in geometrischen Rastern, die Aufregung vor deinem Gesicht. Ich vermeide es, bei meiner Ankunft aus dem Fenster zu schauen, damit ich dich nicht am Bahnsteig stehen sehe. Ich denke du tust dasselbe.
"Wenn die Wiederholung möglich ist, so gehört sie eher zur Ordnung des Wunders als der des Gesetzes.“ - Gilles Deleuze, Wiederholung und Differenz
Erst durch die Wiederholung eröffnet sich uns die Möglichkeit etwas Erfahrenes bewusst zu begreifen. Auch wenn diese Wiederholung von uns möglicherweise etliche Zeit unbewusst ausgelebt wird, ist sie doch ein Merkmal der Kontrolle über etwas. Kontrolle und Sicherheit finden wir beispielsweise darin an etwas festzuhalten, was wir dabei sind zu verlieren oder bereits verloren haben. Wir umklammern dieses fragile, zerbrechliche Objekt so fest mit unseren Fingern, dass es uns vor lauter Fixierung darauf überhaupt nicht aufgefallen ist, wie wir dieses bereits zerquetscht haben. Dieses Trauma äußert sich daraufhin darin zu versuchen diese Einzelteile ganz hysterisch wieder zusammenbringen zu wollen. Doch sind diese nicht logisch wie Puzzleteile wieder aneinander zu bringen. Die Fragmente passen nicht mehr aneinander, manche werden so dünn wie Staub vom Winde verweht, manche haben sich wie Glassplitter in unsere Haut gebohrt. Sie sind nun entweder für immer verschwunden und wir begeben uns auf Ewigkeiten auf die Suche nach ihnen oder sie sind so sehr Teil von uns, dass wir sie gar nicht mehr als etwas Getrenntes von uns wahrnehmen. Die Wiederholung bringt also auch jedes Mal eine Spaltung mit sich. Diese Lücke ist die Erkenntnis, dass wir nicht dasselbe wiederfinden, denn erst diese lässt uns die Wiederholung als Wiederholung erfahrbar machen. Was unweigerlich mit der Wiederholung zusammensteht, oder ihr auch entgegengesetzt sein kann, ist also die Erinnerung.Die Erinnerung blickt immer in die Vergangenheit. Dabei ist sie meist verbunden mit einer Melancholie. Ein Wunsch danach, das wiederzuerlangen, woran man sich erinnert. Es ist zu betonen, dass eine Erinnerung nur selten die Realität abbildet, wodurch es beim Prozess der Erinnerung also zu einer Verschiebung des Gewesenen kommen kann. Auch zu beachten ist, dass eine Erinnerung sich zwar in dem Sinne verändert als, dass sie von der tatsächlichen Realität abweicht, sie sonst aber für uns als etwas Statisches, Absolutes abrufbar ist. Die Bilder welche sich uns zeigen verändern sich nicht, sie bleiben bis in alle Ewigkeit dieselbe von uns geformte Realität und bieten uns Schutz vor dem grausamen Realen. Hier ließe sich eine Verbindung zwischen dem Träumen und dem Erinnern herstellen. Beide spielen auf ihre ganz eigene Weise mit dem Wunsch. Wenn sich in unseren Träumen Wünsche ausdrücken, so ist es doch die Erinnerung erst welche den Traum verstümmelt und uns in Form von (versteckten) Symboliken unsere eigenen Wünsche füttert, ohne dass diese uns bewusst sind. Im Gegensatz zu Freud oder Lacan¹, für welche der Wunsch stets mit einem Mangel im Subjekt (also einer Negativität) verknüpft ist, behaften Deleuze und Guattari diesen in Anti-Ödipus mit etwas Positivem. Der Wunsch produziert hier nicht nur die wünschende Person selbst, sondern auch dessen Objekt.²
Erst die Wiederholung also macht es uns möglich nicht verloren in der Vergangenheit umherzuwandern, um die Trümmer der Erinnerung ins jetzt zu bringen, sondern der Mut zur Wiederholung ist es was mit jedem Male die Vergangenheit verändert. Sie zwingt sie dazu zu Werden.
1 Vgl. Sigmund Freud, die Traumdeutung, Jenseits des Lustprinzips und Jacques Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Seminar II, Die Objektbeziehung, Seminar IV, die Bildung des Unbewussten, Seminar V, das Begehren und seine Deutung, Seminar VI 2 Gilles Deleuze, Felix Guattari, Anti-Ödipus, S.37: “[...] daß der Wunsch nach Wenigem "Bedürfnis” verspürt, nicht nach den Dingen, die man ihnen läßt, sondern gerade nach jenen, die man ihnen fortgesetzt entwendet, und die statt des Mangels im Subjekt die Objektivität des Menschen begründen würden: das objektive Sein des Menschen also, dem Wünschen Produzieren, in Wirklichkeit Produzieren ist. Das Reale ist nicht unmöglich, in ihm ist und wird vielmehr alles möglich. Nicht der Wunsch bringt im Subjekt einen molaren Mangel zum Ausdruck, es ist die molare Organisation, die den Wunsch seines objektiven Wesens beraubt.”
„[...] Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung des Raums, in dem es schließlich möglich ist zu denken.“-Michel Foucault1
In einem Ausstellungsprojekt, einer offenen Begegnung von Kunst- und Architekturstudierenden, wird Kunst und Ausstellungsarchitektur fern der üblichen Konzepte und Erfahrungen von Materie erlebbar. In diesem besonderen Kontext und den zur Verfügung stehenden 400qm entfaltet sich ein Ort der die Fülle der Leere erfahrbar werden lässt. Licht und Imagination, als in Schwingung versetzte Energien, geben in einem großem durch Folie abgetrennten Teil des Raumes zirkulierend Versprechen auch hinter dem Horizont ab. Die transparente Folienwand und der Raum, der ihr gegenüber ins Leben gerufen wird, erzeugen zwischen sich einen Flur und etablieren zwei Seiten. Von einer dreifach wiederkehrenden Lagerkonstruktion besetzt, werden in diesem zweiten Ort Kunstobjekte sichtbar. In einer Verkehrung des ersten Phänomens manifestiert sich hier die Leere in der Fülle. Durch das Spiel mit Licht und Raum werden virtuelle Dimensionen auch hinter dem Horizont zu einem dynamischen Feld von Möglichkeiten.
Drei Monde, oder sind es bereits sechs, erleuchten den Himmel. Die Sonne bewegt sich nicht. Ein orientierungsloses aufeinander zulaufen der Grenzen ohne Destination. Selbst im kleinsten Kristall des Einzelnen, erscheint einem die Vollkommenheit des Gesamten. Drei Mal schlagen wir die Augen auf. Die erwachenden Augen, noch immer geblendet vom Bewusstsein der Wachheit werden durch die Hände des Traumes aufgehalten sich erneut zu schließen, um sie in der Vergangenheit festzuhalten. Wir versetzen uns nicht in die Gegenwart, sondern diese ist alles was wir haben.
Die Zeichen dominieren unsere Wahrnehmung der schwindenden Realität. Wir haben die Ebene der Vortäuschung und Imitation verlassen, was gleichzeitig dazu führt, dass der Begriff Repräsentation nun von einer wahllosen Kombination von Modellen und Codes durchströmt wird. Es scheint so als sei kein „Außen“ mehr möglich, als wären alle unsere Entscheidungen und Erfahrungen prädestiniert. Als wären sie nicht die Unseren. Der Vorgang der Produktion oder auch der identischen Reproduktion ist nicht mehr gleichzusetzen mit der jetzigen Dominanz der Virtualität. Es ist fast als würde die uns bekannte Realität langsam verschwinden. Doch selbst im Verschwinden bleiben stets kleine Reste, blasse Spuren des Verschwundenen. Doch das Verschwinden ist hier nicht als etwas Negatives zu verstehen, denn vielmehr geht es darum über den Horizont des Verschwindens hinaus zu gehen. Erst durch die Aneignung dieses neu entstandenen Raumes der Leere und der gleichzeitigen Verweigerung der Realität ist es uns möglich diese für uns subversiv zu nutzen. Schließlich bleibt die reale Welt immer auch die der Vorstellung und statt unsere Aufmerksamkeit auf die Welt der Dinge zu richten, sollten wir vielmehr die Faszination in dem Verschwinden selbst suchen. Wenn wir alles Sichtbare eingehen lassen in das Reich des Unsichtbaren, vergleichbar mit dem oft beschworenen liminalen Zustand, lassen wir los, um einzutauchen in die ephemere Natur des Lebendigen.
Ein Lager ohne in ihm Gelagertes? Berühren ohne zu besetzen. Ein neuer Blick der den Bestehenden obsolet macht. Alles hin zur nötigen Veränderung, dessen Bewegung frischen Wind durch die wachsenden Hallen bläst.
Das Konzept der Fraktale bildet sich im Kontext der wiederholten Regalstruktur ab. Mit leicht angepassten Größen und Proportionen, ähnlichen Gestaltungselementen und Details bringt es die Idee der Selbstähnlichkeit mit. Der Ansatz der Iteration gibt Dank der Begegnung einfacher Elemente eine Aussicht auf Emergenz, im Sinne von neuen Eigenschaften und Ausdrucksformen. Werke, die sich selbst für bereits abgeschlossen deklariert haben, fragen nach ihrer eigenen Vollständigkeit. Kann der Prozess des Abschlusses jemals für final erklärt werden? Kunstwerke, ständig in Bewegung, im Wandeln; akzelerieren die Bedingungen des Raums nicht ihrer Partikel, sodass sie sich stets verändern können? Auch wenn dies keine formale Veränderung, sondern beispielsweise eine solche der Position im Raum, der Präsentation, Repräsentation sein kann. Diese Verschiebung des Raumes und der Ähnlichkeit zu sich selbst rückt auch die Arbeiten der Studierenden in denselben Kosmos. Was wenn die Arbeit überhaupt nicht die ist, von der wir denken, sondern sie lediglich unserer Vorstellung davon so sehr ähnelt, dass wir dies gar nicht mehr hinterfragen. Fast so als hätte sich die Arbeit ab irgendeinem Punkt, ohne dass wir es bemerken, ganz unbewusst von uns getrennt. Als hätte sie sich selbstständig gemacht und von dort an sind es nicht mehr wir gewesen, die die Kontrolle über das Werk haben, sondern dieses gibt uns vor wie es zu lesen ist.
Die im Gesamtkonzept erscheinenden künstlerischen Arbeiten der Kunststudierenden sind nicht in Bezug zum Raum, ihrem Kontext und zu einander gesetzt. Kamen sie wie jede gute künstlerische Umsetzung ungefragt, fanden die Werke, förmlich magnetisch angezogen, einen für sie prädestinierten Ort innerhalb der Lagerstruktur. Das Zeitfenster ihrer Entstehung, können wir nicht ausmachen. So sprechen sie von Transformation und Wachstum, wenn sie teils buchstäblich wie Pilze sprießen und unsere Kunst- und Kulturgeschichte aufflackern lassen. Einer Intra-Aktion² entsprungen, lassen sie sich nicht einfangen, einer Theorie oder einer Effizienz zuordnen. Möglichkeiten des Wirkens und Seins sprechen aus diesem vitalen Zustand heraus. Mit dem gesetzten Konstrukt agierend, tauchen sie auf, behaupten sie eine vordere Reihe und sind gleichzeitig wieder verschwunden. Der andere Raum, mit Licht und hinter Folie erzeugt, liegt als Horizontale entspannt gegenüber den Vertikalen Strukturen des Lagers. Teils Töne erzeugend, stellt seine Abgrenzung bereits den Raum dar. Die sich gegenseitig aufnehmenden Dimensionen und Verkehrungen von Leere und Fülle spielen eine transformierende Rolle in ihrer Umgebung und unserer Wahrnehmung. Diese Veränderung ermöglicht uns über den Horizont der Fülle zu blicken und in dem Schimmern des Nichts das Potenzial der Unendlichkeit zu greifen.
Frances Scholz & Lennart Koch, 2024
1 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973: S. 214.
2 Karen Barads Konzept der Intra-Aktion besagt, dass Dinge und ihre Beziehungen gemeinsam entstehen, anstatt unabhängig voneinander zu existieren. Materie und Bedeutung sind untrennbar miteinander verbunden und formen sich durch ihre wechselseitigen Prozesse. Anders als bei der traditionellen Vorstellung von Interaktion entstehen die sich kontinuierlich entwickelnden und verändernden Einheiten erst durch diese Intra-Aktion. Die klassische ontologische Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten wird dadurch aufgehoben, da beide nur Bedeutung im Kontext ihrer intra-aktiven Beziehungen erlangen.
Frances Scholz und Lennart Koch für die Klassenausstellung "and may three moons light up the sky" Open Studios 2024 HBK Braunschweig
Frances Scholz and Lennart Koch for the Open Studios 24 class exhibition "and may three moons light up the sky" @HBK Braunschweig
Das Licht der Kerze zeichnete meinen verzerrten Schatten an der Wand. Doch wiedererkennen konnte ich mich in diesem keineswegs. Dieser hatte so wenig mit mir selbst zu tun, wie die knatschenden Holzdielen, auf welchen ich mich langsam zum Bett hinbewegte. Auch hätte mir doch klar sein sollen, dass dies keinesfalls das Jetzt sein konnte. Das Zimmer, in welchem ich mich befand, wirkte wie konserviert. Der Geruch von Petroleum oder zumindest, wie ich mir diesen Geruch vorstellen würde, lag schwer in der Luft des Raumes. Und doch wirkte all dies so vertraut. Ich musste es irgendwo gesehen haben. Das so vertraute Zimmer bietet nicht nur Komfort und Geborgenheit, Schutz vor dem traumatischen Realen, sondern ist womöglich gleichzeitig der Ort an welchem das Reale sein Kunststück aufführt und uns verführt. Die Zeit meine Handlungen zu überdenken, ergab sich mir nicht. Alles, was ich verspürte, war das zwanghafte Verlangen danach meine Tat zu vollstrecken. Die schönsten Gegenstände wie beispielsweise die Eitelkeit aufsprießender Blumen sind für uns Symbole der Vergänglichkeit von Schönheit. Ich erkenne diese Schönheit in den für Viele wohl grässlichsten und verwerflichsten Momenten des Daseins. Es sind keineswegs lediglich die Geschichten oder Überlieferungen sämtlicher Kulturen, sondern es ist all dies was so tief in uns schlummert, quasi ganz unabhängig voneinander seit jeher in uns vergraben ist und ich kollektives Unbewusstsein nenne. Ich spreche als Einzelner für die Gesamtheit, wenn ich behaupte, dass Repressionen nichts verstecken, sondern diese sich nur von einem Ort an eine andere Stelle hin verschieben. Denken Sie denn nicht auch, dass es gewöhnlicher ist sich als Mörder zu sehen, welcher jede Nacht träumt er wäre ein aufrichtiges Mitglied der Gesellschaft, als ein aufrichtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, welches jede Nacht davon träumt zu morden? Das gewöhnlichste Geschehnis, in welchem wir behaupten uns wiederzuerkennen, trägt zu jederzeit die verheerende Möglichkeit mit sich irreversible Schäden anzurichten.
Nun trete ich also mit sanften Schritten an das Bett heran. In diesen Momenten empfinde ich die höchste aller möglichen Befriedigungen. Hierbei spreche ich nicht von einer primitiven sexuellen oder materiellen Befriedigung. Möglicherweise kommt es dem nahe, wie man sich den vollkommenen, zweifellosen Glauben vorstellen müsste. Der Glaube ist dabei so stark, dass die glaubende Person niemals an Gottes Worten oder Taten zweifeln würde, was auch immer dieser befehle oder täte. Die Großzahl dieser selbsternannten Gläubigen sind für mich nichts weiter als Scharlatane, welche ihr sorgenfrei konstruiertes Leben vor sich hin leben ohne jemals wirklich in Verzweiflung geraten zu sein. Wenn ich mir ein solches Leben vorstelle, verspüre ich keinerlei Neid. Ich erhebe also meine rechte Hand, welche mitsamt ihrer dreckigen Fingernageln und den kleinen abstehenden Hautstücken das gespitzte Holz umschlingt. Langsam und mit aller Vorsicht führe ich es in die totblasse Haut der im Bett ruhenden Gestalt ein, bis das abstoßend weiße Duvet in rot getränkt ist. Was wenn die Geister schon vor langer Zeit aufgehört haben die endlosen Korridore der Schlösser heimzusuchen und sich ganz heimlich in unsere Köpfe geschlichen haben? Dann wären ja unsere Gedanken selbst die spukende Realität der Gespenster. Lennart Koch, 2024 für die Ausstellung pinpointing well meaning upper class prey in der Frankfurter Straße 269, Braunschweig
Wie etwas im jetzt erlebtes für immer greifbar machen? Abgeschottet von Zeit und Raum existiert dieser Moment, diese Erinnerung in einer Art limbo. Wir können versuchen uns erlebtes detailgetreu, egal wie unbedeutend oder flüchtig diese Erfahrung uns auch erschienen sein mag, erneut ins Gedächtnis zu rufen. Nostalgisch darauf zurückzublicken. Die Kluft, vor welcher wir uns hierbei befinden, ist die der richtigen oder tatsächlichen Erinnerung. Gehört nicht zu jeder Erinnerung auch das Potential diese zu verfälschen? Uns selbst nicht zu enttäuschen, da es ja so und nicht anders gewesen sein muss?
Von der “Utopie der Regeln”¹, der festeingesessenen Bürokratie des Alltags, welche dem Bedürfnis jede unserer Handlungen zu dokumentieren, analysieren und weiter zu verwerten nachkommt, bis hin zu dem technologischen Fortschritt der kompletten Digitalisierung jeglicher Bereiche unseres Lebens, welche es uns ermöglicht unsere wichtigsten und privatesten Daten, Dokumente und Fotos auf einer Cloud zu speichern, gibt es nur noch wenige Möglichkeiten sich nicht einer vollkommenen Erfassung und Fixierung des tatsächlich gelebten und erinnerten zu entziehen. Ich möchte hiermit an eine Haltung appellieren, welche all dies ablehnt und sich gegen die Archivierung, zumindest so wie diese sich im Jetzt definiert und strukturiert, ausspricht.
Schon längst hat das Konzept der Archivierung die Bibliothek und das tatsächliche Archiv verlassen und sich sämtlichen Bereichen, von der Anthropologie, Soziologie oder Philosophie bis hin zu Sammlungen von angeblichen persönlichen Vorlieben durch Suchmaschinen, um präzise Werbung für die Konsumenten zu schalten, zugewandt. Archivieren bedeutet im selben Moment auch sich-erinnern. Doch diese Erinnerungen sind nicht mehr die unseren. Sie werden zwar von uns erlebt, doch was bereits beim Erleben und danach mit ihnen geschieht, liegt nicht mehr in unseren Händen. Sie werden von uns aufgenommen und kaum sind wir dabei sie zu verarbeiten, durchlaufen diese bereits den zähen und mühsamen Prozess der Verwandlung in etwas, womit sich diese ursprüngliche Erinnerung nicht mehr deckt. Diese wird uns jedoch als Produkt unseres eigenen Begehrens nach einem Objekt, auf welches wir unsere nostalgischen Gefühle projizieren können, wieder vorgelegt. Nostalgie kann also in diesem Fall von einem Außen, beispielsweise der Kulturindustrie in Form von popkulturellen Erzeugnissen wie Musik oder Filmen, konstruiert und zu einem Produkt werden nach welchem wir uns sehnen. Nostalgie lässt auf diese Weise eine Emotionalität zu, welche wir auf andere Weise nicht erlangen können. In dieser Emotion liegt auf der einen Seite die Macht, dieser auf unbewusste Weise jegliche persönliche Verbundenheit zu entziehen, diese auszubeuten und ihrer Authentizität zu berauben und auf der anderen Seite liegt in dem Gefühl der Nostalgie ein enormes Potential Sicherheit und Komfort in etwas zu finden, was wir jederzeit erneut abrufen können. Zumindest für einen kurzen Moment können wir an etwas festhalten, was sich niemals verändern wird. Es wird auf ewig so bleiben wie wir es in Erinnerung halten.
Trotz dessen ist der Begriff der Nostalgie als einer ausschließlich privaten, individuell zuordbaren Fluchtreaktion vorsichtig zu verwenden. Zumindest nicht nur auf eine einzelne Person zu beziehen. Eine Erinnerung oder etwas, was in uns Nostalgie hervorruft, wird vorerst als etwas sehr Intimes und Privates verstanden. Genau diese so gedachten privatesten Momente sind exakt solche, welche nicht nur eine Person als Individuum betreffen, sondern über die Erfahrung des Einzelnen hinaus gehen und zu etwas werden, was das Potential in sich trägt das gesamte Verständnis eines historischen Abschnittes zu formulieren. Wenn man die eigenen Erinnerungen nun von den künstlich hergestellten zu unterscheiden vermag ist es scharf zu beobachten wer genau Zugriff auf diese verschiedenen Archive des Erinnerns hat. Wir sollten die Möglichkeit ergreifen nicht nur die Organisation dieser zu beeinflussen, sondern allesamt die Türme dieser imaginierten Bibliotheken einzureißen, um aus dessen Ruinen etwas Neues zu schaffen. Dieser Wunsch nach der Auslöschung von Erinnerungen drückt sich in einer Ambiguität aus. Jacques Derrida beschreibt das Zusammenspiel des Todestriebes und Lustprinzips Sigmund Freuds in Bezug auf das Archiv als sich gegensätzliche Kräfte². Einerseits besteht das (ursprüngliche) Bedürfnis nach Zerstörung und andererseits der Wunsch nach Konservierung und Aufbewahrung. Wir sollten es uns zunutze machen zwischen diesen beiden kontrahierenden Positionen zu agieren, um es uns zu ermöglichen uns eine der wenigen Dinge zurückzuholen, welche uns niemals genommen werden können. Unsere Erinnerungen.
1 David Graeber “Bürokratie: Die Utopie der Regeln” 2 Jacques Derrida “Archive Fever: A Freudian Impression (Religion and Postmodernism)