Texte: 2023

Gegen Archivierung

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Gegen Archivierung


Wie etwas im jetzt erlebtes für immer greifbar machen? Abgeschottet von Zeit und Raum existiert dieser Moment, diese Erinnerung in einer Art limbo. Wir können versuchen uns erlebtes detailgetreu, egal wie unbedeutend oder flüchtig diese Erfahrung uns auch erschienen sein mag, erneut ins Gedächtnis zu rufen. Nostalgisch darauf zurückzublicken. Die Kluft, vor welcher wir uns hierbei befinden, ist die der richtigen oder tatsächlichen Erinnerung. Gehört nicht zu jeder Erinnerung auch das Potential diese zu verfälschen? Uns selbst nicht zu enttäuschen, da es ja so und nicht anders gewesen sein muss?

Von der “Utopie der Regeln”¹, der festeingesessenen Bürokratie des Alltags, welche dem Bedürfnis jede unserer Handlungen zu dokumentieren, analysieren und weiter zu verwerten nachkommt, bis hin zu dem technologischen Fortschritt der kompletten Digitalisierung jeglicher Bereiche unseres Lebens, welche es uns ermöglicht unsere wichtigsten und privatesten Daten, Dokumente und Fotos auf einer Cloud zu speichern, gibt es nur noch wenige Möglichkeiten sich nicht einer vollkommenen Erfassung und Fixierung des tatsächlich gelebten und erinnerten zu entziehen. Ich möchte hiermit an eine Haltung appellieren, welche all dies ablehnt und sich gegen die Archivierung, zumindest so wie diese sich im Jetzt definiert und strukturiert, ausspricht.

Schon längst hat das Konzept der Archivierung die Bibliothek und das tatsächliche Archiv verlassen und sich sämtlichen Bereichen, von der Anthropologie, Soziologie oder Philosophie bis hin zu Sammlungen von angeblichen persönlichen Vorlieben durch Suchmaschinen, um präzise Werbung für die Konsumenten zu schalten, zugewandt. Archivieren bedeutet im selben Moment auch sich-erinnern. Doch diese Erinnerungen sind nicht mehr die unseren. Sie werden zwar von uns erlebt, doch was bereits beim Erleben und danach mit ihnen geschieht, liegt nicht mehr in unseren Händen. Sie werden von uns aufgenommen und kaum sind wir dabei sie zu verarbeiten, durchlaufen diese bereits den zähen und mühsamen Prozess der Verwandlung in etwas, womit sich diese ursprüngliche Erinnerung nicht mehr deckt. Diese wird uns jedoch als Produkt unseres eigenen Begehrens nach einem Objekt, auf welches wir unsere nostalgischen Gefühle projizieren können, wieder vorgelegt. Nostalgie kann also in diesem Fall von einem Außen, beispielsweise der Kulturindustrie in Form von popkulturellen Erzeugnissen wie Musik oder Filmen, konstruiert und zu einem Produkt werden nach welchem wir uns sehnen. Nostalgie lässt auf diese Weise eine Emotionalität zu, welche wir auf andere Weise nicht erlangen können. In dieser Emotion liegt auf der einen Seite die Macht, dieser auf unbewusste Weise jegliche persönliche Verbundenheit zu entziehen, diese auszubeuten und ihrer Authentizität zu berauben und auf der anderen Seite liegt in dem Gefühl der Nostalgie ein enormes Potential Sicherheit und Komfort in etwas zu finden, was wir jederzeit erneut abrufen können. Zumindest für einen kurzen Moment können wir an etwas festhalten, was sich niemals verändern wird. Es wird auf ewig so bleiben wie wir es in Erinnerung halten.

Trotz dessen ist der Begriff der Nostalgie als einer ausschließlich privaten, individuell zuordbaren Fluchtreaktion vorsichtig zu verwenden. Zumindest nicht nur auf eine einzelne Person zu beziehen. Eine Erinnerung oder etwas, was in uns Nostalgie hervorruft, wird vorerst als etwas sehr Intimes und Privates verstanden. Genau diese so gedachten privatesten Momente sind exakt solche, welche nicht nur eine Person als Individuum betreffen, sondern über die Erfahrung des Einzelnen hinaus gehen und zu etwas werden, was das Potential in sich trägt das gesamte Verständnis eines historischen Abschnittes zu formulieren. Wenn man die eigenen Erinnerungen nun von den künstlich hergestellten zu unterscheiden vermag ist es scharf zu beobachten wer genau Zugriff auf diese verschiedenen Archive des Erinnerns hat. Wir sollten die Möglichkeit ergreifen nicht nur die Organisation dieser zu beeinflussen, sondern allesamt die Türme dieser imaginierten Bibliotheken einzureißen, um aus dessen Ruinen etwas Neues zu schaffen. Dieser Wunsch nach der Auslöschung von Erinnerungen drückt sich in einer Ambiguität aus. Jacques Derrida beschreibt das Zusammenspiel des Todestriebes und Lustprinzips Sigmund Freuds in Bezug auf das Archiv als sich gegensätzliche Kräfte². Einerseits besteht das (ursprüngliche) Bedürfnis nach Zerstörung und andererseits der Wunsch nach Konservierung und Aufbewahrung. Wir sollten es uns zunutze machen zwischen diesen beiden kontrahierenden Positionen zu agieren, um es uns zu ermöglichen uns eine der wenigen Dinge zurückzuholen, welche uns niemals genommen werden können. Unsere Erinnerungen.

1 David Graeber “Bürokratie: Die Utopie der Regeln”
2 Jacques Derrida “Archive Fever: A Freudian Impression (Religion and Postmodernism)

für Merit Böger

die reine Ebene der Repräsentation

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für Nico Paczkowski