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von Lennart Koch, Merit Böger
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Ausstellungstext für die Ausstellung "Tears and New Tears" im Studio Kirchstraße 2, Bregenz 

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Szene 1: Büro - Tag: Ich habe letzte Woche ein neues Café entdeckt, in welchem ein striktes Laptop-Verbot herrscht. Um ein gutes Klima zum Nachdenken zu schaffen. Durchatmen. Es liegt direkt auf dem Weg in mein Büro, von dem aus ich im Fenster die Passanten auf der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes gespiegelt sehe. Sie klettern wie Fledermäuse, kopfüber, die kristallenen Glasfronten des Gebäudes hinauf. Durch einen Effekt, welcher einer Camera obscura ähnelt, ist es bei einem bestimmten Einfallswinkel der Sonnenstrahlen möglich, durch die Spiegelung des gekippten Fensters, welches schrägnach unten zeigt, die Geschehnisse der Straße auf das daneben liegende Hochhausvorgeführt zu sehen. Wie eine Filmleinwand, überblenden sich die Einstellungen der Fußgänger mit der statischen Aufnahme der Fenster der Zentralbank. Natürlich kann das Fenster geöffnet sein, das Außen wahrnehmbar, sich jemand im Raumbefinden, doch die Einsamkeit überkommt einen. Man kann sie nicht ersuchen odererzwingen. Ganz behutsam muss man sich seinen Bau errichten, fluchtlinienartig alle Ein-und Ausgänge verbarrikadieren. Kein Eskapismus vor der Realität, nein. Die Feinde sollen vor Konfusion nicht mehr wissen, woher sie kamen, wohin sie wollen. Die verschachtelten Gänge sollen sie in die Irre locken, bis sie dem Urteil gegenüberstehen. Die Person liest von einem Blatt Papier in ein Mikrofon. Sie hält eine kleine Discokugel in ihrem Arm. Sie ist von verzückten Zuschauern umgeben, die im Halbkreis um sie herumangeordnet sind.

Beschreibung 1: Ein blauer Teppich mit bunten Punkten bedeckt den Boden des Galerieraums. Die Wand wird mit einem leicht rosafarbenen Licht beleuchtet und in gleichmäßigen Abständen werden Lichtpunkte reflektiert. Durch den Torbogen hindurch, kann man eine große Leinwand sehen. Auf dem von zwei silhouettierten Figuren teilweiseverdeckten Bild sind Kreaturen mit winzigen Gesichtern gemalt. Die Person ist ganz rosagekleidet. Sie hält ein Mikrofon und ein Blatt Papier in der Hand und steht umgeben von einer Menge im Kreis angeordneter Zuschauer vor dem Bild. Auf ihrem T-Shirt steht mit schwarzen, gut lesbaren Buchstaben „Vermisst“. Kylie ist kein Mädchen, sie ist eine ganze Kultur. Die Kulmination von allem, was in sie herein projiziert wird. Sie bildet die optimale Projektionsfläche. Mit Dankbarkeit nimmt sie dieses Geschenk Gottes an. Als ob man sich beim Henker dafür bedanken würde, dass er die Schlinge nicht zu eng gebunden hat. Ein unstillbarer Durst, nicht mehr separat zu sein, sucht sie heim. Alles, was sie will, ist sich nicht mehr zu fühlen, als wäre sie im Exil, wie ein verstoßenes Objekt. Ihr Pony ist ein wenig zu lang, sodass sie ihren Kopf leicht schütteln muss, um ihn aus den Augen zu bekommen.

Szene 2: Café - Tag: Es wäre zu viel, diese helle Kammer als Büro zu bezeichnen. Schon seit Monaten habe ich keinen einzigen Satz schreiben können und alles liegt an diesem Duras Buch, welches Camille mir gab. Meine Art zu schreiben habe sie daran erinnert. “Stets solle man beim Schreiben umhüllt von einer Abtrennung von den Anderen sein”, schildere ich Kylie und blicke dabei an ihr vorbei. Irgendwie fällt es mir heute schwer Augenkontakt zu halten.

“Hm?”, antwortet sie und blickt von ihrem Smartphone herauf.
“Was meinst du?”
“Ich habe das Gefühl niemals dazu zu kommen, mich einsam zu fühlen. Es ist mir nicht möglich”
“Geh doch Mal in den Park oder so?”, sagt Kylie.

Langsam holt sie eine farbenfrohe Zeichnung mit Skizzen zweier Personen aus ihrer Tasche heraus. Sie holt weitere Schnipsel hervor und legt diese vor sich. Die ausgeschnittenen Figuren auf den Schnipseln verwandeln sich zu Teilen eines Bildes, und sie fängt an, darauf zu malen.

Doch ist mir in diesem Moment bereits klar, dass sie nicht versteht, wovon ich spreche. Das Schreiben ist eine der wenigen unkonditionellen Verausgabungen, welche nicht auf eine Kompensation oder Verbrauchbarkeit aus sind. Unproduktiv. Zwecklos. Dysfunktional. Das einzige Ziel ist der größtmögliche Verlust. Nach langem Schweigen und Stimulationen stehen wir auf, zahlen getrennt und ich begebe mich auf den Weg zurück ins Büro. Gelegentlich genieße ich es, neue Wege zu mir bekannten Orten zu gehen. Mich treiben zu lassen. Nachdem ich verschiedene staatliche Gebäude passiere, vor welchen bewaffnete Figuren umzingelt von Zellen aus Stahl im Kreislaufen, erreiche ich das Paradies. Wasser sprießt in unermesslichen Höhen aus dem Boden empor und fällt darauf erneut in sich selbst zusammen. Die kleinen Spritzer am Gipfelerzeugen vor der Kulisse des hellblauen Himmels ein Glitzern. Die Eleganz der Verführung und unser Einverständnis uns verführen zu lassen, wird für die Augen aller zur Schaugestellt. Perfektionierte Seduktion. Es fällt mir schwer, zwischen der Bewunderung der Erhabenheit und der reinen Machtausübung der Reproduktion eines Naturphänomens zu unterscheiden.

Beschreibung 2: Die Person wird von hinten durch einen hellen, weißen Bildschirmbeleuchtet. Das bewegte Bild im Bildschirm zeigt eine im Vordergrund schwach beleuchtete Figur aus unterschiedlichen Blickrichtungen. Eine Person beugt sich über ein E-Piano, ihr Haar fällt ihr ins Gesicht. Im Hintergrund läuft eine Projektion, mit dicken Buchstabenerscheint das Wort „Paradies“. Gleichzeitig kommt eine andere Person herein und knüllt die Zettel, die auf dem Boden liegen, zusammen und breitet anschließend eine herzförmige Leinwand vor sich aus, während ihre Augen wegschauen. Langsam fängt die Person am E-Piano an aus einem roten Buch vorzulesen: „The young girl is obsessed with authenticity because it's a lie.“ Sie ist eine Kultfigur und ein Außenseiter zugleich. Ihr ängstliches, manchmal unbeholfenes und schüchternes Wesen strahlt sich auch in ihren Bildern aus. Obwohl sie im Herzen wild ist, ist sie äußerst diszipliniert und bedacht in ihren Absichten.

Szene 3: Dimes Square - Tag: Autogeräusche ziehen von fern zu nah und erneut zu entfernt vorbei. Rush Hour, Pflasterstein, Hitze, Business Casual. Die Sonne reflektiert in den Glasfenstern des fünfzigsten Stockwerkes der Zentralbank die zerbrochenen Schaufenster des Handyreparaturladens, welcher letzte Woche erneut geplündert wurde. Ich frage mich wie lange es dieses Mal dauern wird, bis sich irgendein post-marxistisches Kollektiv zu den Taten bekennt und anhand der verwendeten Polizeitaktiken während der Demonstration (in diesem Fall: Kettling), den klaghaften Versuch des Empires, die Souveränität aufrecht zu erhalten, begründet. Körper werden immobilisiert. Der Raum zieht sich zusammen. Eine Träne läuft die Wange herunter. Politik ist keine Einstellung, es ist ein Handeln, eine Geste. Auf dem Tisch befinden sich etliche unfertige Manuskripte, Kritzeleien auf kleinen bunten Papieren, leere Cola-Light Dosen. Bereits zwei Jahre wohne ich hier, aber daran werde ich mich niemals gewöhnen können. Aus einer Gewohnheit lernt man üblicherweise schnell. Wiederholte Abläufe brennen sich in das Gedächtnis ein, als ob man die Uhrzeit an dem Anblick der Sonne ablesen könnte.

Beschreibung 3: Die Person hält nun mehrere Blätter Papier in der Hand, auf der bunte Pinselstriche und Fotografien zu sehen sind. Ihre Arme sind mit unzähligen Kordeln behängt. Eine Menschenmenge aus Zuschauern umringt sie, manche sitzend, manche stehend. „Dieses Auto ist sehr gruselig, ich weiß nicht warum… Die Welt ist ein Ort, an dem es unheimlich sein kann, unheimliche Dinge werden passieren, aber wäre es beängstigend, wenn die Welt untergeht, nein, weil das Ende der Welt bedeutet nichts. Nichts. Und Nichts kann nicht gruselig sein, weil wir nicht wissen, was Nichts ist, Nichts war nie eine existierende Sache in unserem Leben. Kannst du das Nichts definieren? NEIN! Was ist das Nichts?AaAAAaAAAAH. Es ist 4 Uhr morgens –es ist ein Konzept. Wir rennen einfach zur Wohnung der 55-Jährigen Dame und gehen in 5 Sekunden. Wir sind den ganzen Weg in der Kältegelaufen - Den GANZEN Weg. Wir haben Graffiti gemacht – Nein, wir nicht. Sorry, das war eine Lüge, eine Schwindelei, das war Trickserei.
“Die Person ist umgeben von hingerissenen Zuschauern, die im Halbkreis um sie herumangeordnet sind. Es gibt in gleichmäßigen Abständen reflektierte Lichtpunkte, die den Raummustern. Nach langer Stille fängt das Publikum an zu klatschen.

Szene 4: Und dann musste ich daran denken, wie ich in der U-Bahn, zu dir saß. Die Landschaft akzeleriert Hand in Hand mit der Geschwindigkeit, “NYC” von Interpol wird durch den schlechten Empfang auf der YouTube-App unterbrochen, die Gebäude expandieren in geometrischen Rastern, die Aufregung vor deinem Gesicht. Ich vermeide es, bei meiner Ankunft aus dem Fenster zu schauen, damit ich dich nicht am Bahnsteig stehen sehe. Ich denke du tust dasselbe.

Merit Böger & Lennart Koch