Künstlerisches Schaffen

by Nele Kaczmarek

 

„Thus we cover the universe with drawings we have lived. These drawings need not to be exact. They only need to be tonalized on the mood of our inner space.“ ¹ 

Tuğba Şimşek reist viel. Zuletzt hat sie Bogotá, Kolumbien und Istanbul, Adıyaman, Diyarbakir und Uşak in der Türkei besucht. Auch in Frankfurt und Braunschweig hat sie einige Tage verbracht. Während dieser Zeit sind eine Reihe neuer Zeichnungen und Druckgrafiken entstanden, die den Kern der Ausstellung Drawing Lines bilden. Noch vor Betreten der Ausstellung werden diese von einer aktualisierten Version der Arbeit Rabenfeder, Türkischmohn und Perlhuhn, 2015/20 gerahmt, in der das Motiv der Künstlerin als Vagantin eingeführt wird. 

Tuğba Şimşek ist immer in Bewegung. Mit einem aufmerksamen, möglichst unbedarften Blick streift sie durch die Umgebung und scannt den Strom vorbeiziehender

(Stadt-)Landschaften, Passanten, Architekturen und Schriftzüge. Auffälliges und scheinbar Randständiges, Bild- und Textfragmente werden mit dem gleichen Ernst registriert, aufgelesen und verarbeitet. Die Komplexität und Vielstimmigkeit des urbanen Raums, die Gleichzeitigkeit verblühender Sträucher, hupender Taxis oder ornamentaler Verzierungen von Gebäuden – Farben, Formen, Geräusche und Gerüche – verdichtet sie in wenigen schnell gesetzten Strichen auf Papier. Manchmal schälen sich aus den Linien klar identifizierbare Konturen heraus, an anderer Stelle verlieren sie sich im Schemenhaften, Ungefähren. Getestet werden die Grenzen bildnerischer Repräsentation: Wie weit lassen sich Verfahren formaler Reduktion ausreizen, ohne die symbolische Verweisfunktion, die Zeichenhaftigkeit der Zeichnungen zu gefährden? Welche (imaginierten) Bedeutungen werden den integrierten spanischen und türkischen Worten zugewiesen? Und welche Klänge und Stimmungen (re-)produzieren sie? Tuğba Şimşek verfolgt eine im Konkreten ortsbezogene, doch gleichzeitig nomadische künstlerische Praxis, die regelmäßiger Wechsel der Umgebung bedarf. Eine Arbeitsweise, in der Studio oder feste Produktionsstätten nicht länger notwendig sind, da eine hohe Unmittelbarkeit, eine direkte Verarbeitung des Erfahrenen und Gesehenen angestrebt wird. „Places for me is the locus of desire“.² Orte des öffentlichen Raums zeigen sich in Tuğba Şimşeks Arbeiten als flirrende Beziehungsgefüge heterogener Entitäten. Körper, Architekturen und Stimmungen scheinen nur für den Moment in einer möglichen Form gebannt. Diese Spuren der Stadt werden um persönlichen Erinnerungen angereichert: Gezeigt wird eine durch die subjektive Erfahrung vermittelte Realität. Ganz selbstverständlich verschmelzen im Akt des Zeichnens Elemente von Außen- und psychischem Innenraum. Tuğba Şimşek spricht eher durch die Stadt als über sie. Begleitet wird sie dabei von einem Rudel dunkler, stumm auf dem Boden kauernder Wesen oder herumstreunender Chimären, die nicht ganz Hund, Katze oder Vogel sein wollen. „Where to stick the present, as it quickly becomes past, within the messy city of the mind?“³ Eher noch als Fotografien, vermögen Zeichnungen die Widersprüche gelebter Erfahrungen und emotionale Intensitäten einzufangen. Deutlich äußert sich in Tuğba Şimşeks Arbeiten das beinahe nostalgische Verlangen Erlebtes zu konservieren und Erinnerungen zu verstetigen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, Tuğba Şimşeks Skizzenbüchern, folgen ihre neuen Blätter keiner festen Chronologie mehr, als Erinnerungsfragmente lassen sie sich zu immer neuen Konstellationen verbinden. Sie scheinen wie lose Blätter eines Reisetagebuchs, sind dabei aber nicht ausschließlich introspektiv angelegt: Besonders in Verbindung mit den eingelassenen Worten – die vage Rückschlüsse auf den Entstehungsort ermöglichen – scheinen die Betrachter_innen angesprochen und zum Austausch angeregt. Schon länger arbeitet Tuğba Şimşek zudem an Verfahren, um dem Unbewussten mehr Raum in ihrem künstlerischen Ausdruck zu geben. Das Zeichnen ist in Tuğba Şimşeks Alltag als eine kontinuierliche und beinahe performativ-körperbetonte Praxis etabliert, sodass internalisierte Bewegungsmuster intuitiv abgerufen werden können. Auch die verwendeten Farben werden eher beiläufig gewählt. In der Arbeit mit dem beschichteten Kratzpapier – im Gegensatz zur konventionellen Zeichnung interessanterweise eine subtrahierende, Material entfernende Prozedur – sind die freigelegten Farben sogar gänzlich unkontrollierbar. Das en passant ins Bewusstsein tretende wird als Bestandteil der künstlerischen Aussage akzeptiert und eine zufallsbedingte Form der Erkenntnis forciert. Dabei variieren die Bildsujets von Arbeit zu Arbeit zum Teil deutlich – Ausnahme bildet lediglich eine Serie von Zeichnungen, in denen wellenförmige Linien die Gischt von Wellen, oder aber die Konturen von Wolken andeuten. Motive über die Rosalind Krauss in Das optisch Unbewusste schreibt: „Die See und der Himmel stehen für eine Art der Verpackung ‚der Welt’ als ganzheitlichem Bild, als ein Feld, das von der Logik seines eigenen Rahmens konstituiert wird.“⁴